Namaste, liebe Alle,
nachdem ich beim Abendgebet am heiligen Fluss Ganges vom hinduistischen Triumvirat Brahma, Vishnu und Krishna umfassende göttliche Eingebungen und in Mutter Theresas Hospiz die besten Wünsche erhielt, am Orte Buddhas erster Predigt erleuchtet und heute sogar vom Imam der hiesigen Moschee gesegnet wurde, muss es um mein Karma aufss Beste bestellt sein, müssen meine Chakren vor Energie fast platzen und ich nun spirituell rundum gewappnet sein!
Das kann man hier in Kalkutta allerdings sowohl bei der Arbeit wie im Alltag auch wirklich gut gebrauchen, bringt einen hier doch jede Straßenüberquerung oder jeder Schluck Wasser potentiell der Endlichkeit nahe.
Ohne meine bekannten meisterlichen Fähigkeiten in Schicksalsergebenheit, Geduld und Fatalismus würde man es auch mit einigen medizinischen Erlebnissen schwerer haben – beispielsweise bei diesem Herrn, der mit einem Puls von 171 und einer Sauerstoffsättigung von 86 dem anscheinend in Regierungskrankenhäusern geltenden indischen Intubationskriterien „Puls muss mindestens doppelt so hoch sein wie die Sauerstoffsättigung“ erst genügte, als er, von uns eilig ins Krankenhaus verfrachtet, dort nach zweieinhalb Stunden Wartezeit bewusstlos vom Stuhl rutschte.
Oder bei dem 11 jährigem Abdul, den sein selbst hustender und schon von weitem schwindsüchtig aussehender Vater unbedingt aus der Tb-Station herausholen will, weil das mit dem Tuberkuloseverdacht eh alles Quatsch sei und er des Sohnes Arbeitsfähigkeit für das Familieneinkommen benötige.
Oder bei einer 50 jährigen Frau, die argumentationsresistend trotz eindeutigem Rückenmarksprozess ihre Blasenschwäche und spastische Beinlähmung auf ihr harmloses Lipom (Fettwucherung) am Hinterkopf zurück führte.
Anbei eine kleine Galerie von Patientenportraits, wie sie im Laufe eines Tages so auftauchen können.
Schlange stehen beim Registrieren
Krätze, Pilzerkrankungen, chronische und akute Lungenerkrankungen, Tuberkulosen sieht man hier täglich, HIV ist eher selten, dafür bin ich „endlich“ an meine Lepra gekommen. Malaria kommt um diese – trockene – Jahreszeit praktisch gar nicht vor. Auffällig häufig sind hier neben rheumatischen (also postinfektiösen) Herzklappenerkrankungen auch angeborene Fehlbildungen (besonders oft an den Gliedmaßen) und frühkindliche Hirnschäden: das eine ist wahrscheinlich auf die vielen arrangierten Ehen zurück zu führen, bei der im Partnerwahlprozess wohl doch gerne im weiteren Verwandtenkreis gesucht wird, letzteres auf die schlechten geburtshilflichen Bedingungen. Im weiteren laboriert man hier so an den Auswirkungen der A-Z-Mängelliste herum, die Euch aus dem letzten Bericht bekannt ist. Die Wohnverhältnisse sind anbei auch ein wenig illustriert.
Großfamilien-Behausung
1 Wohnraum für 6
1 Wohnraum für 7
Gar kein Wohnraum
Dabei sind die Arbeitsbedingungen hier doch interessant anders als in den anderen German Doctors-Projekten wie z.B. in Bangladesh oder auf den Philippinen oder in Kenia: unsere Medikamentenliste hat zwar auch hier ein eingeschränktes Spektrum, dafür sind aber, durch die hohe Zahl an Kliniken mit letztlich allen erdenklichen Subspezialisten im Einzelfall die diagnostischen Möglichkeiten grösser – allein die Lungenröntgenmöglichkeit bei Tuberkuloseverdacht ist ein großer Segen – und bei ganz besonderen Erkrankungen lassen sich planbare Operationen (zB an Herzklappen oder was Plastisch-Chirurgisches) öfter mal über die Organisation „Interplast“ finanzieren oder durchführen.
Ein großes Los habe ich diesmal mit meiner Übersetzerin gezogen, Jhuma (auf den Bildern ist sie die mit dem Megafon in der Hand, die tägliche Morgenansprache haltend, dass es nur der Reihe nach geht, lautstarke Auseinandersetzungen untereinander zum Behandlungsausschluss führen, dass nur Schwerstkranke und allenfalls Mütter mit Kleinkindern bevorzugt dran kommen, dass wir nicht für die Behandlung lebensbedrohlicher Zustände gerüstet sind). An ihr ist sicher eine Ärztin verloren gegangen – aber es ist nun mal hierzulande so, dass man ohne Geld zu haben, nicht einfach nach Neigung irgendein Studium aufnehmen kann. Die Zusammenarbeit mit ihr ist sehr effektiv und sie freut sich über jede Einzelheit, die sie lernen kann.
Im Alltag ist im wirtschaftlich aufstrebenden Indien weiterhin das Nebeneinander von Hui und Pfui hervorstechend: so gibt es schicke Shopping Malls unweit von aus Abfallprodukten errichteten Slumhütten, läuft im Fernsehen Werbung für die neue E-Klasse und leben andere von 15 Rupees-Gerichten (ca. 25 Cent) oder können sich unter Umständen nicht mal das leisten. Unter unseren Patienten sind viele Analphabeten, während Indiens Wissenschaftler Satelliten ins All schicken. Die Straße vor unserem Wohnhaus jedoch zeigt 4 Wochen und zwei Regengüsse nach ihrer Komplettasphaltierung schon wieder bis 30 cm tiefe Schlaglöcher, die zu Verkehrsstau und fulminanten Gehupe führen und die Nächte neben den Temperaturen bis 30° wenig erquicklich macht.
Aber wie oben schon gesagt: weise, aber auch mit Ohropax versehen, ergibt sich der Erleuchtete fast klaglos ins Unabänderliche …
Hare Rama, hare Krishna, hare, hare!
Euer R.
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ACHTUNG, HIER BEGINNEN DIE MEDIZINISCHEN BILDER!
Lungentuberkulose
Lkw überrollte Rikschafahrerfuß (hielt aber Anhalten nicht für nötig)
Ins Kohlenfeuer gefallen
Lepra