Im Juni 2011 gab ich meine Hausarztpraxis auf und folgte dem „Ruf der Wildnis“. Erste humanitäre medizinische Einsätze führten mich nach Kenya, es folgten so einige weitere Stationen in bspw. Sierra Leone, Ghana, auf den Philippinen, in Liberia, in Uganda. Meist war ich als Internist und Generalist unterwegs, in Sierra Leone auch mal eine zeitlang als der einzige chirurgisch tätige Arzt der dortigen Buschklinik. In letzter Zeit bemühe ich mich, besonders auch in der Pädiatrie dazuzulernen. Die Einsatzwirklichkeit fordert einen manchmal aber auch auf Gebieten von A bis Z - von Anästhesie über Geburtshilfe bis zum Zähneziehen reichten die Herausforderungen.

Von allüberall schrieb ich "Einsatznachrichten" per Mail an Kollegen, Verwandte und Bekannte in der Heimat. Da ich schon seit einiger Zeit stolzer Besitzer einer eigenen Webseite bin, war es dann ein Leichtes (Ironie), mich zu überreden, RICHTIG modern zu werden und regelmäßig zu bloggen (!) und so meine Erlebnisse der Weltöffentlichkeit zu präsentieren.

Ich wünsche viel Spaß beim Lesen.
Herzlichst, Euer Rolf.

Indien, 17. März 2019

Hare Krishna

Namaste, liebe Alle,

nachdem ich beim Abendgebet am heiligen Fluss Ganges vom hinduistischen Triumvirat Brahma, Vishnu und Krishna umfassende göttliche Eingebungen und in Mutter Theresas Hospiz die besten Wünsche erhielt, am Orte Buddhas erster Predigt erleuchtet und heute sogar vom Imam der hiesigen Moschee gesegnet wurde, muss es um mein Karma aufss Beste bestellt sein, müssen meine Chakren vor Energie fast platzen und ich nun spirituell rundum gewappnet sein!

Das kann man hier in Kalkutta allerdings sowohl bei der Arbeit wie im Alltag auch wirklich gut gebrauchen, bringt einen hier doch jede Straßenüberquerung oder jeder Schluck Wasser potentiell der Endlichkeit nahe.

Ohne meine bekannten meisterlichen Fähigkeiten in Schicksalsergebenheit, Geduld und Fatalismus würde man es auch mit einigen medizinischen Erlebnissen schwerer haben – beispielsweise bei diesem Herrn, der mit einem Puls von 171 und einer Sauerstoffsättigung von 86 dem anscheinend in Regierungskrankenhäusern geltenden indischen Intubationskriterien „Puls muss mindestens doppelt so hoch sein wie die Sauerstoffsättigung“ erst genügte, als er, von uns eilig ins Krankenhaus verfrachtet, dort nach zweieinhalb Stunden Wartezeit bewusstlos vom Stuhl rutschte.

Oder bei dem 11 jährigem Abdul, den sein selbst hustender und schon von weitem schwindsüchtig aussehender Vater unbedingt aus der Tb-Station herausholen will, weil das mit dem Tuberkuloseverdacht eh alles Quatsch sei und er des Sohnes Arbeitsfähigkeit für das Familieneinkommen benötige.

Oder bei einer 50 jährigen Frau, die argumentationsresistend trotz eindeutigem Rückenmarksprozess ihre Blasenschwäche und spastische Beinlähmung auf ihr harmloses Lipom (Fettwucherung) am Hinterkopf zurück führte.

Anbei eine kleine Galerie von Patientenportraits, wie sie im Laufe eines Tages so auftauchen können.


Schlange stehen beim Registrieren


Krätze, Pilzerkrankungen, chronische und akute Lungenerkrankungen, Tuberkulosen sieht man hier täglich, HIV ist eher selten, dafür bin ich „endlich“ an meine Lepra gekommen. Malaria kommt um diese – trockene – Jahreszeit praktisch gar nicht vor. Auffällig häufig sind hier neben rheumatischen (also postinfektiösen) Herzklappenerkrankungen auch angeborene Fehlbildungen (besonders oft an den Gliedmaßen) und frühkindliche Hirnschäden: das eine ist wahrscheinlich auf die vielen arrangierten Ehen zurück zu führen, bei der im Partnerwahlprozess wohl doch gerne im weiteren Verwandtenkreis gesucht wird, letzteres auf die schlechten geburtshilflichen Bedingungen. Im weiteren laboriert man hier so an den Auswirkungen der A-Z-Mängelliste herum, die Euch aus dem letzten Bericht bekannt ist. Die Wohnverhältnisse sind anbei auch ein wenig illustriert.

Großfamilien-Behausung

1 Wohnraum für 6

1 Wohnraum für 7

Gar kein Wohnraum

Dabei sind die Arbeitsbedingungen hier doch interessant anders als in den anderen German Doctors-Projekten wie z.B. in Bangladesh oder auf den Philippinen oder in Kenia: unsere Medikamentenliste hat zwar auch hier ein eingeschränktes Spektrum, dafür sind aber, durch die hohe Zahl an Kliniken mit letztlich allen erdenklichen Subspezialisten im Einzelfall die diagnostischen Möglichkeiten grösser – allein die Lungenröntgenmöglichkeit bei Tuberkuloseverdacht ist ein großer Segen – und bei ganz besonderen Erkrankungen lassen sich planbare Operationen (zB an Herzklappen oder was Plastisch-Chirurgisches) öfter mal über die Organisation „Interplast“ finanzieren oder durchführen.
Ein großes Los habe ich diesmal mit meiner Übersetzerin gezogen, Jhuma (auf den Bildern ist sie die mit dem Megafon in der Hand, die tägliche Morgenansprache haltend, dass es nur der Reihe nach geht, lautstarke Auseinandersetzungen untereinander zum Behandlungsausschluss führen, dass nur Schwerstkranke und allenfalls Mütter mit Kleinkindern bevorzugt dran kommen, dass wir nicht für die Behandlung lebensbedrohlicher Zustände gerüstet sind). An ihr ist sicher eine Ärztin verloren gegangen – aber es ist nun mal hierzulande so, dass man ohne Geld zu haben, nicht einfach nach Neigung irgendein Studium aufnehmen kann. Die Zusammenarbeit mit ihr ist sehr effektiv und sie freut sich über jede Einzelheit, die sie lernen kann.

Im Alltag ist im wirtschaftlich aufstrebenden Indien weiterhin das Nebeneinander von Hui und Pfui hervorstechend: so gibt es schicke Shopping Malls unweit von aus Abfallprodukten errichteten Slumhütten, läuft im Fernsehen Werbung für die neue E-Klasse und leben andere von 15 Rupees-Gerichten (ca. 25 Cent) oder können sich unter Umständen nicht mal das leisten. Unter unseren Patienten sind viele Analphabeten, während Indiens Wissenschaftler Satelliten ins All schicken. Die Straße vor unserem Wohnhaus jedoch zeigt 4 Wochen und zwei Regengüsse nach ihrer Komplettasphaltierung schon wieder bis 30 cm tiefe Schlaglöcher, die zu Verkehrsstau und fulminanten Gehupe führen und die Nächte neben den Temperaturen bis 30° wenig erquicklich macht.

Aber wie oben schon gesagt: weise, aber auch mit Ohropax versehen, ergibt sich der Erleuchtete fast klaglos ins Unabänderliche …

Hare Rama, hare Krishna, hare, hare!

Euer R.

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ACHTUNG, HIER BEGINNEN DIE MEDIZINISCHEN BILDER!

Lungentuberkulose

Lkw überrollte Rikschafahrerfuß (hielt aber Anhalten nicht für nötig)

Ins Kohlenfeuer gefallen

Lepra

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Indien, 18. Februar 2019

Mängel von A bis Z

Liebe Alle,

Kalkutta ist zwar im Vergleich zu Dhaka in Bangladesh eine geradezu ansehnliche Stadt – u.a. mit ihren beeindruckenden Baurelikten aus der britischen Kolonialzeit – aber ein gewisser Prozentsatz seiner Bewohner hat von diesem Bild aus Licht und Schatten nur in letzterem seinen Platz. Und das sind nun mal genau die Patienten, um die sich das hiesige Gesundheitsprojekten von German Doctors, in dem ich derzeit bin, kümmert.

Die Slums, die wir dafür anfahren liegen entweder am Rand von Kalkutta oder in seiner auf der anderen Flussseite gelegenen Partnerstadt Howrah. Seine Bewohner besitzen sehr wenig – nur von Mängeln, die sich auch auf ihre Gesundheit auswirken, haben sie sehr viel.

Die Liste dieser Mängel erscheint fast endlos und von A bis Z zu reichen:

A Vitamin A Mangel kann zB Nachtblindheit machen – noch vor diesem Stadium aber bereits eine solche Abwehrschwäche, dass bis zu jedes sechste an Masern erkrankte Kind an diesen stirbt(!!)

B Blutarmut ist häufig, aus vielen der weiter unten genannten Gründe und führt u.a. zu nachlassender Arbeitskraft und damit zu nachlassendem Verdienst und damit in die soziale Abstiegsspirale.
B wie Beziehungen; ohne diese ist es schwer, Arbeit, Wohnung, Bildung, korrekte Behandlung bei Behörden etc etc zu finden.
B wie Vitamin B: dessen Mangel kann zu Nervenfunktionsstörungen führen.

C Calcium fehlt viel wegen mangelnder Milchprodukte und/oder Vitamin-D-Mangel (s.u.)

D ohne Sonnenlicht kann Vitamin D im Körper nicht aktiviert werden – was zu mangelnder Knochenverhärtung führt. In den 30er Jahren noch wurden deshalb die Berliner Kellerkinder auf’s Land verschickt, weil sie sonst die Knochenkrankheit Rachitis bekommen hätten Hier ist jedoch noch eine andere Patientengruppe gefährdet: junge Frauen streng muslimischer Familien. „They are kept in the house“ (sie werden im Haus gehalten [welch bemerkenswerte Wortwahl]) & falls sie überhaupt mal auf die Strasse dürfen, nur bodentief verhüllt, oft einschließlich Handschuhen(!) und sie leiden deshalb trotz glühend heißer Sonne in diesem Lande manchmal so sehr an Sonnenlichtmangel, dass sie die rachitisähnliche, schmerzhafte Knochenkrankheitrankheits Osteomalazie bekommen.

E Ein Eisenmangel, mit zT erheblicher Blutarmut verbunden, liegt bei den allermeisten Kindern und Frauen im gebärfahigen Alter vor (für die Mediziner: mein gestriger Patient hatte einen HB von 2,9).

F die Freiheit, seinem Schicksal zu entrinnen, hat hier fast keiner: die Frauen entkommen nicht ihrer Eheknechtschaft und bleiben für immer Besitz(!) ihres Mannes; die Männer entkommen nie ihrem Arbeitgeber – wenn sie denn mal einen haben – da der auch ihre Familien kennt und sich bei Unbotmäßigkeit an ihr schadlos hält. Da liegt Trost im Alkohol nahe: viele Männer sind, ungeachtet ihres islamischen Glaubens, Alkoholiker. Was dies für ihre Arbeitsfähigkeit und damit für das finanzielle Überleben ihrer Familien ausmacht, kann man sich leicht ausmalen.
F wie Folsäure: Vielen Jungen Frauen fehlt genug dieses Vitaminstoffes. Werden sie schwanger, steigt die Rate an Wirbelsäulen und Nervenmissbildungen ihrer Kinder stark an.

G wie Geld: …
G wie Geburtenregelung: das Unwissen ist hoch; es werden noch immer zu früh zu viele Kinder zu schnell hintereinander geboren.
G wie Geburtshilfe: an Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen sterben wöchentlich in Indien so viele Frauen wie in ganz Europa in einem Jahr.

H Hebammen gibt es keine und aus Kostengründen wird die Hausgeburt bevorzugt. Die Folge: Kinder mit Hirnschäden wegen Sauerstoffmängeln während des Geburtsvorgangs findet man weit überproportional häufig. Sie leiden unter Lähmungen oder Krampfleiden oder Intelligenzmangel oder Kombinationen davon – der Kreislauf ihres Lebens als gesellschaftlicher Bodensatz ist bereits vorprogrammiert.
H wie Haus: manche Bedürftige haben nicht mal das Wellblechdach einer Slumhütte über dem nächtlichen Kopf, sondern sind obdachlos, leben und schlafen auf der Strasse.

I an Intimsphäre fehlt es ganz und gar: oft ist es so, dass acht oder mehr Personen gemeinsam in einem einzigen- manchmal sogar fensterlosen – Raum von 12 oder weniger Quadratmetern zusammen leben und schlafen

J Jodmangel führt nicht nur bei den Frauen zu Schilddrüsenkröpfen und -unterfunktionen, sondern bei Kindern zu mangelnder Gehirnentwicklung und Kleinwuchs.

K eine Kindheit fehlt vielen jungen Slumbewohnern: ohne Schulbildung, zT ohne irgendwo behördlich existent zu sein, da ihre Geburt nie gemeldet wurde, werden sie zum Verdienen weniger Pfennige zur Kinderarbeit geschickt.

L Liebe gilt als exotischer Tinnef: die Eltern bestimmen in den ärmeren und den bildungsferneren Schichten noch allein, wen ein junger Slumbewohner/-Bewohnerin zu heiraten hat.

M Mitleid: außerhalb eines überschaubaren Dorfverbundes hat man das nur mit eigenen Familienangehörigen; da hilft man sich auch gegenseitig. Aber die begrenzten Mittel an irgendjemand außerhalb der Familie zu verschwenden, gilt als völlig unschicklich, sogar anstößig. Und den oberen 5% der Society sind die 25% da unten eh völlig schnuppe…

N Nahrungsmittel, vor Allem gesunde, fehlen natürlich sehr. Fertiglebensmittel, Tütensoßen, Linsen sind Hauptnährquelle, an Fisch, Fleisch fehlt es komplett, an Obst und Gemüse in hohem Maße.

O eine Obrigkeit existiert zwar – u.U. sogar sehr! – aber keine unbestechliche, keine, an die man sich mit Unrechtsklagen wenden könnte

P Protein, also Eiweiß, fehlt in der oft fast rein kohlehydratähnlichen Kost in hohem Masse: Fleisch ist unerschwinglich, auch Milchprodukte – obwohl Indien mit Lassie, Joghurts, Curds dafür berühmt ist – sind für die Slumbewohner oft zu teuer

Q Die Qualität der Sozialfürsorge ist hochdefizient: neuerdings gibt´s manchmal, seit Indiens Wirtschaft wächst, zum Beispiel Zuschüsse für behinderte Kinder, für große Operationen oder Anreize für Geburten in der Klinik – aber bspw. wird letzteres nicht in bar, sondern nur auf ein Bankkonto gezahlt. Das stellt eine analphabetische Frau, die oft nicht mal den für eine Kontoeröffnung notwendigen Ausweis oder Geburtsurkunde besitzt, vor unüberwindliche Hürden. Andere Zuschüsse können nur online(!) beantragt werden…

R Die Resistenz gegen Krankheitserreger ist wegen all der genannten Mängel, wegen Unterernährung, wegen Unwissenheit, wegen der Umweltbedingungen und oft katastrophaler Hygiene bei fast allen Slumbewohnern eingeschränkt.
R wie religiöse Toleranz: die große Mehrzahl der Slumbewohner ist moslemisch. Die Hindus verachten sie – und umgekehrt ist´s ebenso.

S nicht mal Schuhe hat mancher. Auch die Handrikscha-Zieher laufen zT barfuss. Genauso wie viele Kinder, die sich dadurch Hakenwürmer und dadurch wiederum eine Blutarmut zu ziehen.

S wie Sauberkeit, persönliche: alle waschen sich zwar täglich, aber fließend Wasser hat bestenfalls die obere Mittelschicht. Lobenswert sind die öffentlichen Handpumpen für Grundwasser – aber sie fehlen oft im Slum, die Arbeit ist hart, die Wohnverhältnisse extrem beengt und so etwas wie einen Dusch- oder Baderaum oder eine Spültoilette kennen hier die meisten nicht mal vom Hörensagen. Also wäscht man sich in der Kleidung und mit extrem verunreingtem Flusswasser.

S wie Sauberkeit der Umwelt:eine Müllabfuhr in halbwegs funktionierender Form gibt es nur in den bessergestellten Wohnvierteln. Anderswo lagert der Müll buchstäblich überall oder, besonders unansehnlich, schwimmt in allen Gewässern.

T Telefon ist einer der geringsten Mängel – wegen des nicht mehr existenten Festnetzes hat fast jede Familie ein bis zwei. Umständebedingt können die Kinder sich hier jedoch noch „ein Leben ohne Handy vorstellen“…

U Unterricht kennt manches Kind gar nicht: geschätzte 40% der Slumbewohner sind Analphabeten.

V Die fehlende Ventilation der Hütten, der überbelegten Kleinstwohnungen, in denen das Kohlenfeuer des Herdes mitten im Schlafbereich der Menschen raucht, führt zur sog. „Indoor pollution“. Die Folge sind eine hohe Rate an Asthma und chronischen Bronchialleiden, die die ohnehin hohe Tuberkuloseanfälligkeit noch erhöhen.
V wie Vitamin C: sogar Skorbut kommt selten mal vor.

W Wäsche fehlt allein schon aus Konventionsgründen: hier tragen die Männer die Röcke („Lungee“) und praktischerweise nix drunter, dafür die Frauen die Hosen (Sarwar) unter dem Sari; aber bei der besonders für Frauen extrem prekären Toilettensituation auch keine störende Unterwäsche.

X wie XX-Cromosom: Beim Nachwuchs werden Jungen bevorzugt (sie bringen was ein [die spätere Altersversorgung], während Mädchen später eine teure Mitgift erfordern), darum ist das weibliche Geschlecht, mit seinem XX-statt XY-Chromosom, unterrepräsentiert (Ultraschall ermöglicht eine Geschlechtsbestimmung noch im Uterus…; auch werden Mädchen nicht so früh zum Arzt gebracht wie Jungen).

Y wie Yahoo: Indien ist ein Hightechland; sehr viel läuft hier über Computertechnologie – aber bei den unteren 25% der Bevölkerung, den Analphabeten schon ganz und gar, kommt gar nichts davon an.

Z Zink fehlt bei Kindern als Immunitätshilfsstoff und muss mindestens bei jedem Durchfall und jeder Antibiotikatherapie substituiert werden.

War lang, diese Liste, oder?
Und sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dennoch: auch hier gibt es (!!!) Fröhlichkeit, Optimismus, Lebensfreude & ich arbeite hier trotzdem gerne & ich finde Indien noch immer beeindruckend. Allein dass es möglich ist, 1,2 Mrd Menschen mit einem zwar deutlich manglhaften, aber wenigstens nicht diktatorischen System wie in China zumindest irgendwie zu verwalten und wenigstens notdürftig zusammenzuhalten, nötigt Respekt ab!

Mitte/ Ende März melde ich mich wieder,

namaste,
Euer R.

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Philippinen, 16. September 2018

Rolling Clinic – ein Bildbericht

Liebe Alle,

die hier eher harmlosen Ausläufer des Taifuns Mangkhut und zwei ebenfalls harmlose, aber trotzdem nicht angenehm zu erlebende kleine Erdbeben liegen hinter uns. Zeit für den zweiten Einsatzberichtsteil aus Mindoro, der wieder etwas mehr medizinische Inhalte hat (manche Bilder am Schluss muss NICHT jeder angucken!), aber damit auch für die Nichtmediziner was dabei ist, beschreibe und bebildere ich am mal einen Tag unterwegs mit der Rolling Clinic – einverstanden?

Nach dem Taifun nahm die Strassennässe doch deutlich zu

Punkt 7 Uhr morgens geht es los, je nach Regenintensität der Nacht ist es um 8 Uhr schon schweißtreibend warm und das Gelände trocken oder es ist grau, vielleicht gar neblig und der Boden eine einzige nasse Rutschpartie im Schlamm: beides für‘s Kistenschleppen doof – aber man sich‘s ja ausgesucht…

Manchmal halten wir vor einem gemauerten sogenannten Health Center und richten uns da für den Tag ein, meistens aber sind es leicht bis stark baufällige Bambushütten, manchmal nur so was wie strohüberdachte Marktstände.

Sodann wird das mit Kisten, Taschen, Klapptisch etc. vollgestopfte Auto entladen. Hier, wie in Nord-Luzon, gibt es zur Hilfe dabei oft eine Sorte mir sehr sympathischer kleiner Frauen, die stark, zäh, unermüdlich und fast immer fröhlich sind: sie schleppen bei Bedarf Lasten wie ihr eigenes Lebendgewicht – und dass das z.T. nur gute dreißig Kilogramm sind, macht die Tatsache keineswegs weniger beeindruckend!

34 kg, 7 Kinder, selbst bewirtschaftete Farm

Als erstes wird die Anmeldung aufgebaut; jedes Dorf verwahrt seine Krankenakten selbst und bringt sie nun her (alle 4 Wochen kommt die Rolling Clinic wieder ins selbe Dorf). Dann wird jeder gewogen (das ist für die Dosierungen oft enorm wichtig: die müssen hier niedriger als in Deutschland ausfallen [Faustregel: 1 g’standener Oberbayer entspricht 2 bis 2,5 Philippinos]).

Andrang bei der Anmeldung

Außerdem werden, sehr vorbildlich und arbeitserleichternd, nicht nur Blutdruck, Puls, ggf. Temperatur und Datum der letzten Monatsblutung eingetragen, sondern auch die Beschwerden schon notiert, bei Tuberkuloseverdacht in sogar perfekter Weise mit allen B-Symptomen, eventuellen Expositionen, Familiensituation etc. Auch die Übersetzungsqualität ist hier so sehr viel besser als auf Luzon, dass auch mehr als 100 Patienten am Tag schaffbar sind.

Vor Sprechstundenbeginn wird eine Begrüßungsrede gehalten und ich muss mich – auf Tagalog, was meist größeres Hallo hervorruft – vorstellen, ehe entweder ein kleiner Gesundheitsvortrag oder etwas Gymnastik folgen. Dabei machen meist Jung und Alt mit.

Ich stelle mich vor


Alle mitmachen: Gymnastik, bevor es los geht!


Die Mangyan sind ein mir sympathisches, gutmütiges und bescheidenes und trotz aller Armut humorvolles Völkchen; ein paar Stellvertreter habe ich für Euch fotografiert.

Zwei zutrauliche Rotznasen


Ein kleines Model in Mangyan-Festtracht


Alter Mangyan-Krieger


Mama mit Auswahl ihrer Kinder



Ältere Mangyan-Dame


Zwei Schüchterne

Das RC-Team besteht aus 5 Leuten: Der Fahrer fungiert auch als Helfer in der Anmeldung und in der Medikamentenausgabe; eine Schwester hat vollauf mit dem Aufbau der Pharmacy, dem Rausgeben der Medikamente und vor Allem mit den sehr notwendigen Erklärungen dazu zu tun; eine zweite Schwester erledigt das Labor (Urintests, Blutabnahmen, Zucker-Stixe, Schwangerschaftstests) und Alles, was mit Tuberkulose zu tun hat – was auch hierzulande einiges an Formulareausfüllen mit sich bringt.

Ambulante Apotheke

Zum Schluss gibt es noch die teamleitende und gleichzeitig übersetzende Schwester sowie mich, die wir den eigentlich bequemsten Job haben: sich mit den Patienten unterhalten (und den Kaffee wegtrinken).


Außer natürlich meiner selbst sind alle Teammitglieder Mangyan und sprechen daher beachtlicherweise jeder drei Sprachen – Tagalog, Mangyan und wenigstens halbwegs Englisch. Von Empfängnisverhütung über Infektionsvermeidung bis zu Ernährungshinweisen gibt es auch häufigen Beratungsbedarf.

Häufige Krankheitsbilder sind Hauterkrankungen in hunderterlei Form (infektiös meist, aber oft auch allergisch bedingt), Atemwegsinfekte, Asthma, Wurmerkrankungen, üble Mittelohrentzündungen, Diabetes, Rücken- und Zahnschmerzen, Schilddrüsenprobleme (sicher durch die schlechte Jodversorgung bedingt), Psychosen und Epilepsien. Malaria gibt es hier seit einer Handvoll Jahren nicht mehr. Tumore, Verletzungen, Typhus, Dengue, Chikungunya und Varizellen kommen vor; Schwangerenvorsorgen sind zu machen und ganz viele Kinder zu behandeln.

Außer bei den Allerkleinsten läuft aber alles sehr diszipliniert ab; es wird geduldig gewartet und klaglos hingenommen, wenn mal wieder irgendwelche Medikamente fehlen; auch die Kinder quengeln oder nörgeln nicht – auf die Idee, mittags etwas zu Essen zu verlangen, wenn es länger dauert, kämen hier weder Kinder noch Erwachsene jemals.

Mit zu den beeindruckensten Erkrankungen – auch wenn sie hier glücklicherweise viel seltener ist als z.B. in Westafrika – zählt schwere Unterernährung bei Kindern. Übertroffen wird sie jedoch noch von der Tuberkulose – besonders von den hier nicht seltenen extrapulmonalen Formen: am häufigsten als Befall der Wirbelsäule, die meist bleibende Deformierungen und öfter bleibende Lähmungen mit sich bringt. So gehäuft habe ich das in anderen Einsatzländern noch nicht gesehen.

Wonneproppen beim Wiegen

Die Transportfrage ist für stark geschwächte Patienten oft prekär: Krankenwagen gibt es auf den Dörfern nicht, es muss gelaufen werden oder man muss sich tragen lassen oder das Universaltransportsystem Motorrad in der sog. Sandwichmethode benutzen (Patient eingeklemmt zwischen Fahrer und Begleitperson[en]).

Frau trägt ihren Mann zur Behandlung

Unentdeckt und unbehandelt tötet die Tuberkulose auch – so erlebbar in der Geschichte des jungen Vaters mit 5 Kindern, deren Mutter vor 6 Wochen an TBC verstorben war. Das jüngste Kind war in dieser Frist bereits in schwere Unterernährung geraten: da blieb Krankenhauseinweisung unvermeidbar.

Die Tb-Diagnostik (der Sputumausstrich, ggf Röntgen oder der GenXpert) läuft recht effektiv vorwiegend im Hintergrund ab; als Doktor hat man damit nur wenig und vorwiegend nur mit neuen Fällen oder Komplikationen zu tun.

Tja, und wenn irgendwann alle Patienten abgearbeitet sind, muss Alles wieder in Kisten, Kartons, Taschen verstaut werden, ehe es zurück geht. Im Gegensatz zum Nord-Luzon-Projekt wird auf Mindoro nur selten unterwegs übernachtet, i.d.R. geht es abends ins Staff house zurück, wo ich dann, so wie jetzt, Kaffee trinkend und auf WLAN-Empfang hoffend an Euch schreibe.


Viele liebe Grüße,
Euer R.

Achtung – hier folgen jetzt die medizinischen Bilder!

Hautpilz (Pitirysiasis versicolor)


Lippenkarzinom nach jahrzehntelangem Bethelmissbrauch


Verschlepptes Knie-Empyem, nun Fistel und Kontraktur


Abszess, von Wirbelsäuln-Tb ausgehend


Erstmals(!) ärztlich vorgestellter Brustkrebs


Beinlähmung durch Wirbelsäulen-Tbc


Kind mit schwerster Herzkrankheit


Prachtvolle Läusekolonie


Was fällt auf?


Röntgenbild mit Lungenabszess


Mit Zahnweh rechts


Eine der unzähligen Strumen

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Philippinen, 19. August 2018

Mindoro

die Anreise zu dem German Doctors Projekt auf Mindoro, von dem ich Euch heute erzähle, war eine etwas längere: Nach dem Nachtflug wurde ich in Manila einem wahrhaft monsunartigen Platzregen begrüßt, reiste dann per Bus Richtung Südwest zum Hafen von Batangas. Dabei kam ich am Vulkan von Taal vorbei, einer wirklichen Zeitbombe, auch wenn sie nicht tickt: ein großer runder Kratersee, in dessen Mitte noch mal ein Vulkankegel mit eigenem Kratersee aufragt, in dem sich wiederum eine kleine Insel befindet. Der Vulkan brach zwar zuletzt 1965 aus, wird aber äußerst scharf beobachtet, da einerseits die Umgebung ob ihrer enormen Fruchtbarkeit sehr dicht besiedelt ist, andererseits der Vulkan weiter aktiv ist: u. A. steigt die Temperatur des Sees manchmal drastisch an – in den 90er Jahren waren es mal 60°(!) – und dann wird die Bevölkerung in die vielerorts vorhandenen evacuation centers gescheucht.

Taal Vulkan

Taal See mit Vulkan

In Batangas fuhren wegen Sturm+Regen die „super fast“ Katamarane nicht, nur ein alter langsamer Dampfer steuerte den Zielhafen Calapan auf der siebtgrößten (von 7100) philippinischen Insel Mindoro an, welcher am Fuß des 2600m hohen Mt.Halcon liegt. Dieser erlangte seinerzeit einige Bekanntheit, als hier 1982 der (vorerst) letzte japanische Soldat aus dem 2.Weltkrieg aufgespürt wurde, der sich weiterhin weigerte, seine „Stellung“ aufzugeben, bis sein herbeigeschaffter ehemaliger vorgesetzter Offizier ihm dann den Befehl dazu erteilte.

Damit komme ich zu den Mangyan, der Ureinwohnerschaft Mindoros, die die Zielgruppe des Projektes darstellen: sie, die abseits der moderneren philippinischen Zivilisation leben, werden den Japaner gekannt, aber aus guten Gründen nicht weitergemeldet haben. Sie meiden die sie oft diskriminierenden Küsten-Filipinos, sprechen oft auch nicht deren Verkehrssprache Tagalog (geschweige denn Englisch), tragen ihre eigene Tracht, die Männer manchmal sogar noch einen Lendenschurz.

Mangyan Mutter und Kind

Mangyan Mutter und Kind

Sie haben sogar eine eigene, wohl aus dem mittelalterlichen Indien entlehnte Silbenschrift. Arm sind sie sowieso und werden immer mehr ins kaum erschlossene Inselinnere abgedrängt. Gottseidank können sie überall ihre Früchte anbauen (besonders Kokosnüsse, Bananen, Mangos, Lychees und und und) – der Boden ist so fruchtbar, dass der berühmte Besenstiel, der, in die Erde gerammt, nach einigen Wochen blühen soll, hier – fast – wahr sein könnte.

Mangyan Silbenschrift

Mangyan Silbenschrift

Das Hauptquartier und Ausgangspunkt für unsere Rolling Clinic-Touren liegt im weiter südlich gelegenen Ort Mansalay, noch mal 4 Autostunden entfernt. Wir steuern bei diesem „Rolling Clinic“ Projekt mit unserem Geländewagen die abgelegenen Mangyan-Siedlungen an – gestern bspw. mussten wir 14 mal einen Fluss durchfahren, um dahin zu gelangen – und bauen dort für einen Tag improvisierte Sprechzimmer, Apotheke und Patientenannahme auf. Im Gegensatz zum vorigen Einsatz auf Luzon kehren wir hier jeden Abend ins „Staffel House“ zurück.

Mein Sprechzimmer

Eines meiner „Sprechzimmer“

Dieser Ausgangspunkt für unsere Touren liegt im weiter südlich gelegenen Ort Mansalay, noch mal 4 Autostunden entfernt. Im Vergleich zu meinem Luzon-Einsatz im Frühjahr bietet dies Quartier schon beinah luxuriöse Wohnverhältnisse – insbesondere das funktionierende westliche Klo und die immer ergiebige Kaffeequelle weiß ich sehr zu schätzen!!

Mein philippinisches Frühstück

Mein philippinisches Frühstück

Die Herausforderung hier liegt neben Luftfeuchte, Regengüssen und Mücken mehr in der am Haus vorbeiführenden, belebten Landstraße: nachts das Fenster zuzumachen geht bei den Temperaturen einfach nicht, ein Überleben ist, wenn überhaupt, nur mit Ohropax möglich. Wenn ich Ende September wiederkomme, ruft besser nicht mehr an, sondern schreibt Briefe oder SMS – denn vielleicht bin ich bis dahin zwar nicht erstickt, aber wahrscheinlich endgültig ertaubt …

😉

Bis demnächst wieder, viele Grüße,
Euer R.

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Philippinen, 8. Mai 2018

Die 118. Reismahlzeit …

… war das Frühstück im Bergdorf Aggancan: der unvermeidliche knoblauchgewürzte Reis plus Bratfisch und Gemüse von gestern (man gewöhnt sich auch daran!).
Um sieben Uhr schultern wir die Rucksäcke, wandern erst über eine rostige Hängebrücke über den Fluss zur anderen Talseite und dann durch Reisfelder auf so schiefen wie rutschigen und steilen Pfaden bergauf zum Health Center des nächsten Dorfes. Trotz der frühen Stunde ist es schon ziemlich heiß und wir bereits durchgeschwitzt. Weiterlesen …

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