Liebe Alle,
Kalkutta ist zwar im Vergleich zu Dhaka in Bangladesh eine geradezu ansehnliche Stadt – u.a. mit ihren beeindruckenden Baurelikten aus der britischen Kolonialzeit – aber ein gewisser Prozentsatz seiner Bewohner hat von diesem Bild aus Licht und Schatten nur in letzterem seinen Platz. Und das sind nun mal genau die Patienten, um die sich das hiesige Gesundheitsprojekten von German Doctors, in dem ich derzeit bin, kümmert.
Die Slums, die wir dafür anfahren liegen entweder am Rand von Kalkutta oder in seiner auf der anderen Flussseite gelegenen Partnerstadt Howrah. Seine Bewohner besitzen sehr wenig – nur von Mängeln, die sich auch auf ihre Gesundheit auswirken, haben sie sehr viel.
Die Liste dieser Mängel erscheint fast endlos und von A bis Z zu reichen:
A Vitamin A Mangel kann zB Nachtblindheit machen – noch vor diesem Stadium aber bereits eine solche Abwehrschwäche, dass bis zu jedes sechste an Masern erkrankte Kind an diesen stirbt(!!)
B Blutarmut ist häufig, aus vielen der weiter unten genannten Gründe und führt u.a. zu nachlassender Arbeitskraft und damit zu nachlassendem Verdienst und damit in die soziale Abstiegsspirale.
B wie Beziehungen; ohne diese ist es schwer, Arbeit, Wohnung, Bildung, korrekte Behandlung bei Behörden etc etc zu finden.
B wie Vitamin B: dessen Mangel kann zu Nervenfunktionsstörungen führen.
C Calcium fehlt viel wegen mangelnder Milchprodukte und/oder Vitamin-D-Mangel (s.u.)
D ohne Sonnenlicht kann Vitamin D im Körper nicht aktiviert werden – was zu mangelnder Knochenverhärtung führt. In den 30er Jahren noch wurden deshalb die Berliner Kellerkinder auf’s Land verschickt, weil sie sonst die Knochenkrankheit Rachitis bekommen hätten Hier ist jedoch noch eine andere Patientengruppe gefährdet: junge Frauen streng muslimischer Familien. „They are kept in the house“ (sie werden im Haus gehalten [welch bemerkenswerte Wortwahl]) & falls sie überhaupt mal auf die Strasse dürfen, nur bodentief verhüllt, oft einschließlich Handschuhen(!) und sie leiden deshalb trotz glühend heißer Sonne in diesem Lande manchmal so sehr an Sonnenlichtmangel, dass sie die rachitisähnliche, schmerzhafte Knochenkrankheitrankheits Osteomalazie bekommen.
E Ein Eisenmangel, mit zT erheblicher Blutarmut verbunden, liegt bei den allermeisten Kindern und Frauen im gebärfahigen Alter vor (für die Mediziner: mein gestriger Patient hatte einen HB von 2,9).
F die Freiheit, seinem Schicksal zu entrinnen, hat hier fast keiner: die Frauen entkommen nicht ihrer Eheknechtschaft und bleiben für immer Besitz(!) ihres Mannes; die Männer entkommen nie ihrem Arbeitgeber – wenn sie denn mal einen haben – da der auch ihre Familien kennt und sich bei Unbotmäßigkeit an ihr schadlos hält. Da liegt Trost im Alkohol nahe: viele Männer sind, ungeachtet ihres islamischen Glaubens, Alkoholiker. Was dies für ihre Arbeitsfähigkeit und damit für das finanzielle Überleben ihrer Familien ausmacht, kann man sich leicht ausmalen.
F wie Folsäure: Vielen Jungen Frauen fehlt genug dieses Vitaminstoffes. Werden sie schwanger, steigt die Rate an Wirbelsäulen und Nervenmissbildungen ihrer Kinder stark an.
G wie Geld: …
G wie Geburtenregelung: das Unwissen ist hoch; es werden noch immer zu früh zu viele Kinder zu schnell hintereinander geboren.
G wie Geburtshilfe: an Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen sterben wöchentlich in Indien so viele Frauen wie in ganz Europa in einem Jahr.
H Hebammen gibt es keine und aus Kostengründen wird die Hausgeburt bevorzugt. Die Folge: Kinder mit Hirnschäden wegen Sauerstoffmängeln während des Geburtsvorgangs findet man weit überproportional häufig. Sie leiden unter Lähmungen oder Krampfleiden oder Intelligenzmangel oder Kombinationen davon – der Kreislauf ihres Lebens als gesellschaftlicher Bodensatz ist bereits vorprogrammiert.
H wie Haus: manche Bedürftige haben nicht mal das Wellblechdach einer Slumhütte über dem nächtlichen Kopf, sondern sind obdachlos, leben und schlafen auf der Strasse.
I an Intimsphäre fehlt es ganz und gar: oft ist es so, dass acht oder mehr Personen gemeinsam in einem einzigen- manchmal sogar fensterlosen – Raum von 12 oder weniger Quadratmetern zusammen leben und schlafen
J Jodmangel führt nicht nur bei den Frauen zu Schilddrüsenkröpfen und -unterfunktionen, sondern bei Kindern zu mangelnder Gehirnentwicklung und Kleinwuchs.
K eine Kindheit fehlt vielen jungen Slumbewohnern: ohne Schulbildung, zT ohne irgendwo behördlich existent zu sein, da ihre Geburt nie gemeldet wurde, werden sie zum Verdienen weniger Pfennige zur Kinderarbeit geschickt.
L Liebe gilt als exotischer Tinnef: die Eltern bestimmen in den ärmeren und den bildungsferneren Schichten noch allein, wen ein junger Slumbewohner/-Bewohnerin zu heiraten hat.
M Mitleid: außerhalb eines überschaubaren Dorfverbundes hat man das nur mit eigenen Familienangehörigen; da hilft man sich auch gegenseitig. Aber die begrenzten Mittel an irgendjemand außerhalb der Familie zu verschwenden, gilt als völlig unschicklich, sogar anstößig. Und den oberen 5% der Society sind die 25% da unten eh völlig schnuppe…
N Nahrungsmittel, vor Allem gesunde, fehlen natürlich sehr. Fertiglebensmittel, Tütensoßen, Linsen sind Hauptnährquelle, an Fisch, Fleisch fehlt es komplett, an Obst und Gemüse in hohem Maße.
O eine Obrigkeit existiert zwar – u.U. sogar sehr! – aber keine unbestechliche, keine, an die man sich mit Unrechtsklagen wenden könnte
P Protein, also Eiweiß, fehlt in der oft fast rein kohlehydratähnlichen Kost in hohem Masse: Fleisch ist unerschwinglich, auch Milchprodukte – obwohl Indien mit Lassie, Joghurts, Curds dafür berühmt ist – sind für die Slumbewohner oft zu teuer
Q Die Qualität der Sozialfürsorge ist hochdefizient: neuerdings gibt´s manchmal, seit Indiens Wirtschaft wächst, zum Beispiel Zuschüsse für behinderte Kinder, für große Operationen oder Anreize für Geburten in der Klinik – aber bspw. wird letzteres nicht in bar, sondern nur auf ein Bankkonto gezahlt. Das stellt eine analphabetische Frau, die oft nicht mal den für eine Kontoeröffnung notwendigen Ausweis oder Geburtsurkunde besitzt, vor unüberwindliche Hürden. Andere Zuschüsse können nur online(!) beantragt werden…
R Die Resistenz gegen Krankheitserreger ist wegen all der genannten Mängel, wegen Unterernährung, wegen Unwissenheit, wegen der Umweltbedingungen und oft katastrophaler Hygiene bei fast allen Slumbewohnern eingeschränkt.
R wie religiöse Toleranz: die große Mehrzahl der Slumbewohner ist moslemisch. Die Hindus verachten sie – und umgekehrt ist´s ebenso.
S nicht mal Schuhe hat mancher. Auch die Handrikscha-Zieher laufen zT barfuss. Genauso wie viele Kinder, die sich dadurch Hakenwürmer und dadurch wiederum eine Blutarmut zu ziehen.
S wie Sauberkeit, persönliche: alle waschen sich zwar täglich, aber fließend Wasser hat bestenfalls die obere Mittelschicht. Lobenswert sind die öffentlichen Handpumpen für Grundwasser – aber sie fehlen oft im Slum, die Arbeit ist hart, die Wohnverhältnisse extrem beengt und so etwas wie einen Dusch- oder Baderaum oder eine Spültoilette kennen hier die meisten nicht mal vom Hörensagen. Also wäscht man sich in der Kleidung und mit extrem verunreingtem Flusswasser.
S wie Sauberkeit der Umwelt:eine Müllabfuhr in halbwegs funktionierender Form gibt es nur in den bessergestellten Wohnvierteln. Anderswo lagert der Müll buchstäblich überall oder, besonders unansehnlich, schwimmt in allen Gewässern.
T Telefon ist einer der geringsten Mängel – wegen des nicht mehr existenten Festnetzes hat fast jede Familie ein bis zwei. Umständebedingt können die Kinder sich hier jedoch noch „ein Leben ohne Handy vorstellen“…
U Unterricht kennt manches Kind gar nicht: geschätzte 40% der Slumbewohner sind Analphabeten.
V Die fehlende Ventilation der Hütten, der überbelegten Kleinstwohnungen, in denen das Kohlenfeuer des Herdes mitten im Schlafbereich der Menschen raucht, führt zur sog. „Indoor pollution“. Die Folge sind eine hohe Rate an Asthma und chronischen Bronchialleiden, die die ohnehin hohe Tuberkuloseanfälligkeit noch erhöhen.
V wie Vitamin C: sogar Skorbut kommt selten mal vor.
W Wäsche fehlt allein schon aus Konventionsgründen: hier tragen die Männer die Röcke („Lungee“) und praktischerweise nix drunter, dafür die Frauen die Hosen (Sarwar) unter dem Sari; aber bei der besonders für Frauen extrem prekären Toilettensituation auch keine störende Unterwäsche.
X wie XX-Cromosom: Beim Nachwuchs werden Jungen bevorzugt (sie bringen was ein [die spätere Altersversorgung], während Mädchen später eine teure Mitgift erfordern), darum ist das weibliche Geschlecht, mit seinem XX-statt XY-Chromosom, unterrepräsentiert (Ultraschall ermöglicht eine Geschlechtsbestimmung noch im Uterus…; auch werden Mädchen nicht so früh zum Arzt gebracht wie Jungen).
Y wie Yahoo: Indien ist ein Hightechland; sehr viel läuft hier über Computertechnologie – aber bei den unteren 25% der Bevölkerung, den Analphabeten schon ganz und gar, kommt gar nichts davon an.
Z Zink fehlt bei Kindern als Immunitätshilfsstoff und muss mindestens bei jedem Durchfall und jeder Antibiotikatherapie substituiert werden.
War lang, diese Liste, oder?
Und sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dennoch: auch hier gibt es (!!!) Fröhlichkeit, Optimismus, Lebensfreude & ich arbeite hier trotzdem gerne & ich finde Indien noch immer beeindruckend. Allein dass es möglich ist, 1,2 Mrd Menschen mit einem zwar deutlich manglhaften, aber wenigstens nicht diktatorischen System wie in China zumindest irgendwie zu verwalten und wenigstens notdürftig zusammenzuhalten, nötigt Respekt ab!
Mitte/ Ende März melde ich mich wieder,
namaste,
Euer R.