Liebe Alle,
wenn Euch der Titel dieses Beitrages seltsam vorkommt, dann geht es Euch wie mir vor ca. 3 Monaten, als ich gebeten wurde, die Medikamentenliste für den jetzigen Einsatz zu prüfen:
Es sollte sich bei diesem Einsatz für die Kaufbeurener Hilfsorganisation Humedica darum drehen, im Rahmen des „Prison Fellowship International“(PFI)-Programms Besuchsreisen von Gefängnissen in Ländern Asiens und Afrikas durchzuführen, in denen rechtliche und gesundheitliche Standards noch unterentwickelt sind. Richtig viel konnte ich mir, da ich das erste Mal auf solch eine Mission gehen würde,darunter noch nicht vorstellen. Warum aber auf dieser Medikamentenliste unter anderem Kindersäfte, gebrauchte Brillen, Seifenstücke und auch Hämorrhoidalcremes standen, fand ich arg seltsam.
Zwar gab ich meinen gewünschten medizinischen Erfahrungssenf zu den ausgewählten Erwachsenenmedikamenten dazu, aber was die eben bspw. genannten vier Dinge anbetrifft, war ich vor ihrem kühnen Streichen von der Liste weise genug, jemand anzurufen, der diese PFI-Einsätze schon oft gemacht hat.
Und inzwischen kann ich berichten, wozu diese Sachen gut sind:
Es verschlug mich, als Teil eines achtköpfigen Teams, in den Sudan – in ein Land, dessen Staatspräsident charmanterweise vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag steckbrieflich gesucht wird (bei ernsthafter Fahndung biete ich gern sachdienliche Hinweise an…) und das schon vor Donald (leider nicht: Duck)´s Visaablehnungsplänen auf G.W. Bushs Liste der Schurkenstaaten stand und nur unter dem Eindruck des seinerzeit schon von Clinton eingeleiteten Embargos ja nicht nur Osama Bin Laden endlich des Landes verwies und bekanntlich nach Afghanistan abschob, sondern schließlich auch dem Wiederzulassen der Arbeit der UN und anderer Hilfsorganisationen, aber auch solchen Öffnungen wie eben dem PFI-Programm zustimmte.
Inzwischen wurde im Sudan nicht nur Gold, sondern auch Öl gefunden und das Land begibt sich auf den Weg zur Wohlhabenheit: wie lange es daher hier so etwas wie das PFI-Programm (aus dem sich die Amerikaner jüngst zurückgezogen haben) noch geben wird, ist zweifelhaft… Noch weniger Chancen bestehen für eine Aufgabe des Scharia-Rechtssystems in irgendeiner absehbaren Zeit.
Vor diesen Kulissen spielt sich hier unsere Arbeit ab – und die ist, das wissen alle Beteiligten, nicht frei von theaterhafter Inszenierung: die Regierung wählt die Gefängnisse aus, in die wir gehen dürfen, was sicher größtenteils erklärt, warum wir kaum unterernährte Gefangene sehen. Es ist deshalb auch klar, dass wir einerseits zwar eine Feigenblatt-Rolle für das Regime spielen nach dem Motto „Seht her, wir lassen sogar Ausländer unsere Gefängnisse besuchen!“, andererseits sind wir aber für zweieinhalb bis dreitausend Gefangene in diesem Land die fast einzige Chance für sehr lange Zeit für etwas menschliche und gesundheitliche Zuwendung (die man in hiesigen Knästen nur bekommt, wenn man gut dafür bezahlen kann).
Und dadurch, dass diese PFI-Besuche gelegentlich wiederholt werden, geben sich wenigstens die aufgesuchten Gefängnisse ein Minimum an Mühe, nicht allzu auffällig da zu stehen – was ja wiederum den Insassen zugute kommt.
Deren Los lasst mich ein wenig schildern.
Vorweg zur heutigen Überschrift: die zum Tode verurteilten bekommen die abgebildeten (und nur heimlich fotografierbaren) Fußketten angelegt und, wie uns erklärt wurde, i.d.R. erst nach ihrer Exekution abgenommen. Wie weiter erklärt wurde, wird mit der Hinrichtung bei Mördern oder Vergewaltigern aber 7 Jahre gewartet: falls des Täters Familie bis dahin die (wohl recht hohe) Buß-Summe zugunsten der Familie des/der Geschädigten zusammen hat und diese die Zahlung annimmt, kann der Täter begnadigt werden, ansonsten wird er gehängt.
Der Klang jener Ketten, wenn diese Menschen zu unseren Untersuchungs- und Behandlungsorten kamen, hat sich auch einem unmusikalischen Gehör wie dem meinen dauerhaft eingeprägt: dabei die Konzentration zur Arbeit zu behalten, ist nicht immer einfach.
Man kann zur Todesstrafe auch beim Übertritt vom Islam zum Christentum verurteilt werden – dann jedoch ohne solche Rückzahlungschance. Dafür wird das Handabhacken bei Diebstahl gar nicht mehr und die Steinigung der Frau bei Ehebruch nur noch selten durchgeführt.
Wie gesagt, wir sind mit Sicherheit hier in Vorzeigegefängnissen unterwegs. Dennoch ist die Seife ein gern genommener Artikel bei den vielen Kontaktenge-bedingten Hautkrankheiten.
Und mit Kontaktenge will ich auch nur angedeutet haben, warum in den Männergefängnissen grade die jüngeren Insassen (ab 15 Jahren bereits) manchmal schmerzlindernde Hämorrhoidencremes brauchen.
Wozu nun die Kindersäfte und die Brillen?
Zu den Traditionen der PFI-Einsätze gehört es, auch die Gefängniswärter und ihre Familien auf Wunsch mitzubehandeln – das klingt zwar seltsam, ist aber begründet: besonders die unteren Dienstgrade der Wärter sind oft selbst arme Schlucker und das Gefühl, die Gefangenen würden mehr Vorteile genießen und mehr Wohltätigkeit abbekommen als ihre Wärter, würden die Insassen wiederum sicher bald büßen müssen.
Dabei gehen, bei den Wärtern wie bei den Gefangenen, die Brillen weg wie warme Semmeln – ich hätte es mir in diesem Ausmaß nie vorstellen können! Aber wer viele Jahre schon nicht mehr klar gucken oder lesen kann, nimmt viel lieber eine nur halb passende Brille als gar keine.
(Schmeißt also in Zukunft Eure nicht mehr benötigten Brillen nicht mehr weg, sondern lasst sie mir zukommen oder Humedica direkt! Humedica e.V., Goldstrasse 8, 87600 Kaufbeuren)
Natürlich sind u.A. für diese Familienmitversorgung die Kindersäfte geplant. Aber da wir auch weibliche Gefängnisinsassen besuchen, komme ich hiermit zu einem weiteren hart aushaltbaren Faktum: so wenig sicher man ist, auf welcher Beweislage die Frauen verurteilt wurden, so gibt es auch bei Ihnen eine gewisse Anzahl Trägerinnen von Fußketten – und wenn manche von Ihnen dann ein kleines Kind auf dem Arm zu unserer Behandlung hereintragen, sind trübsinnige Gedanken nicht fern. Zudem bekommt man noch zu wissen, dass alle gefangenen Frauen ihre Kinder abgeben müssen, sobald diese ganze zwei Jahre alt sind…
Das Erreichbare, was hier und unter diesen Umständen machbar ist – und das ist zum Wenigsten ein ganzes Stück mehr als nichts – gereicht uns aber hier zur Kompensation und motiviert zum unverdrossenen Weitermachen.
Und immerhin haben wir im Nebenher sogar noch drei touristische Highlights zu sehen bekommen:
den Zusammenfluss vom Weißen Nil und Blauen Nil bei Khartoum, Kamelherden und das Rote Meer bei Port Sudan.
So machen wir das Beste draus und in diesem Sinne:
hamdulillah salaam (arab.: willkommen) zum nächsten Bericht, dann wahrscheinlich wieder mal aus Sierra Leone,
Euer R.