Sierra Leone, 5. Juni 2017

Zähne, Zahlen, Zubehör

Liebe Alle,

es ist ja schon eine kleine Tradition, dass der zweite Bericht aus einem Einsatz mehr die medizinischen Aspekte erzählt: Im Mai hatte ich ja bereits die sich gern auch hier auf dem Krankenhausgelände wohlig in der Sonne kringelnden, nichtsdestotrotz unbeliebten Mitbewohner erwähnt. Keine zwei Tage später tauchte der erste Schlangenbisspatient auf: der arme Mann kam noch recht glimpflich davon, aber wie wenige Stunden nach Biss in die Hand so ein Arm aussehen kann, ist auf dem Foto illustriert.

Neben großen Mengen an der nach wie vor extremen Malaria, Bauchbeschwerden und geburtshilflichen Problemen (u.a. 20 jährige Frauen, die bereits ihr 4. Kind erwarten) wird die Sprechstunde ab und an durch in Deutschland eher ungewöhnliche Fälle aufgelockert: offene Mehrfragment-Oberarmbrüche, die lieber erst mal durch Kräuterauflegen behandelt werden, Kinder mit seit 2 Wochen eiternden Sprunggelenken werden erst nach Sichtbarwerden der Knochen zur Vorstellung gebracht und Husten mit Auswurf gern erst dann, wenn er zu Blut wird.

Eine anders geartete Herausforderung sind dann wieder Beschwerdeschilderungen bspw. der Art, dass über „serious pain!“ seit 5 Jahren hier oder dort berichtet wird, aber Fragen nach Verlauf, Verstärkungs- oder Verschlimmerungsmechanismen fast entrüstet zurück gewiesen werden: vielleicht glauben sie ja, dass der Doktor nur dann ernsthaft hinguckt, wenn die Beschwerden als ununterbrochen, niemals abklingend, 24 Std. täglich fortbestehend geschildert werden -?
Die Ursachenerkundung erleichtert solch monotone Beschwerdedarstellung jedoch nicht.

Eine andere Dame tauchte Donnerstag im Nachtdienst auf, vehement über Schmerzen von Kopf bis Fuß klagend und sich auf dem Boden windend. Wie sich nach erfolgloser Diagnostik und spontanem Beschwerdeabklingen anderthalb Tage später herausstellte, hatte sie ihren Göttergatten mit diesem Manöver nur dazu zu zwingen wollen, die Aufnahmegebühr ins Krankenhaus bezahlen zu müssen – damit er dann kein Geld mehr für die Hochzeitsfeier mit seiner Zweitfrau, für den Freitag geplant, übrig behalten würde. Darüber, ob sich das weitere Zusammenleben zu dritt später harmonisch gestaltete, ist mir nichts bekannt.

Sehr zum Vertreiben von Langeweile trug auch ein 26stündiger Ebola-Alarm bei, bis dann das erlösende negative Testergebnis kam: ein schwerstkrankes Kleinkind, aus mehreren Körperöffnungen blutend und mit allen Verdachtssymptomen, erinnerte uns daran, dass die Gefahr keineswegs für immer vorbei ist. Ich muss aber sagen, dass die sonst manchmal etwas zögerlich reagierenden Mitarbeiter, als es um diese Verdachtsdiagnose ging, sich sofort kooperativ und bemüht zeigten und meine verhängten harten Isolations- und Schutzmaßnahmen klaglos umsetzten.

Weitaus weniger dramatisch, aber ebenfalls herausfordernd, waren drei Zahn-Notfälle. Zahnärzte gibt es hier weit und breit nicht, so dass die Dinge hier bis zu Stadien schwellen können, die man bei uns in Deutschland für unvorstellbar halten würde. Anbei ein Bild (Danke, Annette, fürs Verkleinern! Sehr Sensible vergrößern es besser nicht durch anklicken), bei dem man auf den ersten Blick nicht gleich an eine „nur“ dentale Ursache denken würde.

Hier durfte ich in einer Sitzung gleich 5 verfaulte Zähne – bzw. deren Reste – aus der Unterkiefer hervorholen. Solche Zustände, wie bspw. auch die Unterkieferphlegmone bei einer weiteren Zahnpatientin, können durchaus lebensbedrohlich werden. (Großes Danke an Michael an dieser Stelle für seine angekündigte Stiftung besserer Instrumente als die jetzt hier verfügbaren!!)

Einen fast gleich großen Anteil wie das Medizinische machen die Management- und Verwaltungsaufgaben an meinem glorreichen Job als Medical Superintendent (h.c., also wohl humoris causa) aus: Listen schreiben, Zettel ausfüllen, Zahlen eintragen wie 32 Millionen(!) Leones Monatsbudget, Memo´s schreiben, an die Bonner Zentrale berichten sind der eine Teil, hinter allerlei Fehlendem her zu rennen, der andere:

Vööööllig unerwartet fehlen beispielsweise plötzlich Antibiotika o.A. („Ich schwör´s, Doc, gestern waren noch 200 da!“) oder Venenkanülen für Kleinkinder (in 150 km Entfernung dann aufgetrieben und per Kurier herbeigeholt). Aber es kann sich auch um Schalter für Lampen handeln oder um Wasserhähne oder einen Reifen für die einzige Schubkarre des Krankenhauses (in Wirklichkeit fehlte der seit einem halben Jahr, nur war in der Kürze dieser Zeit noch keine Ersatzbeschaffung möglich gewesen…). Aber auch deutscher Perfektionismus ist nicht lückenlos, wie das Zurücksenden eines zwar reparierten Ultraschallgerätes zeigt, dem leider der Schallkopf beizufügen vergessen worden war oder neue Griffe für das Elektrokautergerät (zur Blutstillung bei Operationen), die ohne das Zubehör passender Kabel hier ankamen.
Oh Sisyphos, Du Bruder im Geiste, wir lieben es, nicht wahr??

Wenigstens aber habe ich hier ein schickes Büro (s. Foto), immerhin mit dem Luxus eines eigenen Ventilators und mit meist funktionierender Internetconnection.

Nun steht sehr bald die Heimreise an. Vielleicht werden mir dann Versorgungs-, Strom-, Wasser-, Internetausfälle richtig fehlen. Und wie bringt man eigentlich seine Abende zu, wenn es keine Mückenstiche einzureiben oder Insektenrepellents aufzutragen oder Moskitonetze festzuzurren gibt?

Bis denne,
Euer R.

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