Sierra Leone, 20. November 2017

Lagerkoller

Liebe Alle,

diesmal schreibe ich Euch von einem meiner kürzesten Einsätze: für nur kaum 4 Wochen bin ich wieder zum Chefarztspielen nach Sierra Leone geschickt worden.

Sehr glamourös ist der Chefarztjob am Serabu Community Hospital – früher: Serabu Catholic Mission Hospital – jedoch nicht: zwar habe ich wieder mein Büro nebst derzeit allerdings oft widerspenstigem Internet, habe ein Doctor‘s House ganz für mich allein und kann mich jederzeit von einem Fahrer durch die Gegend herumkutschieren lassen.

(Apropos Gegend: davon haben wir hier viel, denn die nächste Stadt ist weit. Aber viel Spektakuläres bietet die Umgebung nicht außer der sattgrünen Landschaft und der rötlichen Erde: die Straße führt nicht zum noch 90 km entfernten Meer, sondern verendet weit davor in Sümpfen, zu den Aluminium-Minen sind’s auch noch 30 km Buckelpiste und die Touren zum emeritierten Alt-Erzbischof und zu den Outreach-Dörfern sind wenig attraktive Dienstfahrten.)

Medizinisch bin ich außer mit Dienstbesprechungen, etwas Ambulanzarbeit, gelegentlichem Zähne ziehen und manchmal so was Ähnlichem wie einer Chefarztvisite nur wenig eingespannt.

Schluesselauswahl

Eine kleine Schlüsselauswahl

Mein Hauptjob aber ist das Verwalten von Mängeln und Fehlendem, das Organisieren von Verworrenem, das Sichanhören vielfältigster Wünsche, das Regeln des Alltags (siehe Bild der Schlüsselauswahl, die meine Hosentasche permanent nach unten zieht), das Verfassen von Berichten und das Ausarbeiten von Plänen – wobei letzteres oft einen heftig bänderdehnenden Spagat zwischen dem Wünschenswerten und dem Machbaren erfordert.

Meine Sonderaufgabe ist dies Mal jedoch Lagerarbeit – will heißen, dass aus mehreren verschiedenen ehemaligen Depots im Krankenhausgelände (die meist nur in wirren, absolut chaotischen Aufhäufungen verschiedenster, zum Teil längst unbrauchbar gewordener Dinge bestanden und für die der Name „Lager“ eigentlich eine unverdiente Ehre war) ein gemeinsamer, großer Main Store zu bilden ist.

Das Lager

Das Lager

Wenigstens steht dafür ein geeigneter großer Raum als Lager zur Verfügung: während der Ebola-Krise vor knapp 2 Jahren wurde wegen der Ansteckungsgefahr die bis dahin auf dem Krankenhauscompound befindliche Mädchengrundschule geschlossen. Hier schiebe ich durch Staub und Dreck Regale, Kartons, Kisten, Geräte umher, trenne Brauchbares von Unbrauchbarem, Verfallenes von noch Gültigem, Überschüssiges von noch Notwendigem, Schrott von noch Reparierbarem. Anschließend darf das Ganze dann noch beschriftet, gezählt und katalogisiert werden.

Die ehemalige Mädchengrundschule

Die ehemalige Mädchengrundschule

Ein paar Zahlen gefällig? Beispielsweise sind von 9 Sauerstoffkonzentratoren 6 per se unbrauchbar (rostiger Schrott mit falscher Voltzahl, aus Amerika entsorgt), 1 in den letzten Zügen und dann nicht mehr reparierbar, 2 alt aber noch funktionierend. 4 Personenwaagen – davon 3 mit Gewichtsangabe in amerik. pounds und stones, die 4. zwar in Kilogramm, aber verbogen. Dafür haben wir geschätzt an die 5000 von MsF gespendete Op-Kittel zu zählen, rund 2 Tonnen (!) Chlor zu lagern, etwa 100 000 face masks zu inventarisieren, ca. 100 überschüssige, einstmals kostspielige Kniebewegungsschienen an andere Krankenhäuser abzugeben. Braucht einer noch Gummiputzhandschuhe für den Haushalt? Ich hätte noch ein- bis zweitausend über…

Wenn mich der resultierende Lagerkoller wider Erwarten nicht gänzlich dahinraffen sollte, werde ich Anfang Dezember wieder ins deutsche Brägenwurst-, Glühwein- und Spekulatiusparadies eintauchen und adventsliedersummend auf dem Weihnachtsmarktkarussell solange im Kreis fahren, bis mir wieder klar im Kopf wird (oder auch nicht).

Viele liebe Grüße, Euer R.

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