Sierra Leone, 20. Januar 2013

Ruf der Wildnis

Vor einigen Tagen brachte eine knapp 14jährige hier ihr erstes Kind zur Welt und vorige Woche verloren wir eine 15jährige an Eklampsie, einer hochgefährlichen Schwangerschaftskomplikation, die hier in Sierra Leone ihr gehöriges Quantum dazu beiträgt, dass Sierra Leone Vizeweltmeister bei der Müttersterblichkeit ist. Diese 15jährige hatte zusätzlich eine Augendeformität und eine gelähmte rechte Hand.
Beiden diesen Frauen – oder eher Mädchen – war gemeinsam, dass sie als Einzige unserer Patientinnen nicht beschnitten waren: die eine war vielleicht noch zu jung gewesen, während man die zweite, verkrüppelte, vielleicht nicht der Beschneidung (FMC = female genital circumcision) für „wert“ gehalten hat.

Diese Beschneidung wird sonst bei fast allen Mädchen irgendwann zwischen dem 8.(!) und 16. Lebensjahr durchgeführt, i.d.R. in Form einer Klitoris-Amputation (und, seltener, zusätzlich eines Teiles der kleinen Labien). Erst dadurch erhält, nach hiesiger Auffassung, das Genitale seine „richtige“ Form. Diese Beschneidung wird durchgeführt (soll ich sagen: „selbstverständlich“ ohne Narkose, ohne Sterilität?), in dem eine Beschneiderin eine Gruppe von Mädchen in den Wald führt, dort einige Tage mit ihnen verbringt, sie in ihre Pflichten als Frau einführt, zur Fügsamkeit ermahnt und ihnen die Unreinheit und soziale Ächtung einer unbeschnittenen Frau drastisch vor Augen führt. Mit der Beschneidung winkt den Mädchen Aufnahme in die Gesellschaft, sie werden Geschenke erhalten und werden Mitglied der „Secret Society“, die die Beschneiderin entsandt hat und der die Frauen nun lebenslang angehören und die jährlich ein Fest (z.T. mehrtägig) für die Beschnittenen durchführt, welches die einzige Gelegenheit für Frauen, mal in Abwesenheit von Männern unter sich und ausgelassen zu sein, darstellt: von der Wichtigkeit des Festtages unserem Weihnachtsfest allemal vergleichbar.
Wer würde uns Weihnachten wegnehmen dürfen? Wer würde bei uns freiwillig einer geächteten Minderheit angehören wollen? Und auch, weil es kaum jemand anders kennt, wird auch ein Sexualleben ohne nicht wirklich mit dem mit Klitoris verglichen.
Und da diese Beschneidung von interessierten Kreisen als „Teil unserer Kultur“ bezeichnet, Nachfragen als arrogante westliche Einmischung interpretiert und alles Erzählen über das Beschneidungstrauma hoch tabuisiert wird, ist nie ein Gesetz dagegen in Gang gekommen und keine Änderung in Sicht.

In die Wildnis des Waldes ziehen auch die Secret Societies der Männer: ähnlich wie Verbindungsangehörigkeit bei uns verleiht die Mitgliedschaft in einer solchen Society lebenslange Protektion, kann hohe politische Bedeutung haben, ist neben der öffentlichen Seite (Auftreten mit einem society-eigenen „Teufel“ bei großen Ereignissen) mit einem Mut- und Mannbarkeisterlebnis sowie oft Witchcraft (Hexerei) während der geheimen Zusammenkünfte im Wald eine ebenfalls streng tabuisierte Geheimseite vorhanden. Raubtiere oder Elefanten gibt es in S.L. zwar nicht mehr, aber der undurchdringliche Busch mit Schlangen, Insekten, Kleintieren und seiner nächtlichen Unheimlichkeit macht anscheinend schwersten Eindruck auf die Intianden und schweißt sie zusammen. Die politische Bedeutung einiger dieser Societies soll sehr hoch sein.

Nun will ich weder in die Politik einsteigen noch plane ich, mich beschneiden zu lassen oder nachts auf bloßer Erde im Busch zu schlafen, aber in die „Wildnis“ führt mich mein Weg vielleicht doch noch:
– Da ich Euch ja bald mal auch was Anderes als Geschichten aus Serabu zu erzählen haben möchte, werde ich im Sommer einen Einsatz in Ghana machen; einem Land, das neu für mich ist. Im Herbst steht ein Einsatz auf den Philippinen im Kalender.
– Vielleicht aber ändert sich das insofern, dass im Raume steht, dass Ärzte für die3.Welt vielleicht ein neues Projekt in SL versucht. Dort in Panguma, was noch abgelegener und noch primitiver ist als Serabu, soll ich evtl. mal zur ersten Probe in das dortige Krankenhaus reisen: dass es dort keinen Strom und kein fließend Wasser gibt, kenne ich ja schon aus Serabu´s Anfängen – aber dies kleine Krankenhaus hat bislang gar keinen(!) Arzt (geschweige denn einen europäischen) und wird bisher wohl nur von Schwestern betrieben.

Von den Aufs und Abs des hiesiegen Betriebes erzähle ich Euch beim nächsten Mal
und grüße Euch bis dahin herzlich aus dem wieder recht warm gewordenen (heute 39°) Serabu

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