Bangladesh, 11. November 2016

Wo freitags immer Sonntag ist

Liebe Alle,

zwischen dem Verkehr in deutschen Großstädten und dem in Dhaka bestehen doch, wie ich in mehreren Stau-Steh-Stunden recht gründlich feststellen konnte, gewisse Unterschiede. Nicht nur, dass hier zwar mehrheitlich, aber keineswegs ausschließlich links gefahren wird – vor allem ist es das, was sich an Fahrzeugen (plus Fußgängern plus Hunden plus Ziegen) auf den Straßen tummelt, was den großen Unterschied ausmacht.

Ein Hingucker und mich faszinierend sind die Fahrradrikschas, die es in diesem 10-Millionen-Stadtmoloch zu mehreren Hunderttausenden gibt und die aus unerfindlichen Gründen immer reich mit Gold und Glitter verziert sind. Sie fahren die unmöglichsten Wege, Verkehrsregeln souverän missachtend und die unglaublichsten Lasten transportierend: bis zu vierköpfige Familien können und werden da reingequetscht, es kann aber auch ein Stapel von 10 Reissäcken sein samt Reisbauer obendrauf. Manchmal fahren aber auch nur ein ins Handy versunkener junger Schnösel oder eine übergewichtige Geschäftsfrau darin, die den keuchenden Rikshaw-Wallah da vorn auf den Pedalen keines Blickes würdigen. Dies ist ein gewöhnungsbedürftiger Anblick – aber man lernt, dass die armen Pedalritter sich über jede Fahrt, die sie machen dürfen, freuen. Die Rikscha gehört ihnen übrigens nie; sie müssen sie jeden Tag mieten und das Geld dafür im Voraus entrichten.

Fahrrad-Riksha

Die komische „Grüne Minna“ auf dem zweiten Bild ist das, was in vielen anderen Ländern Asiens lautmalerisch als Tuktuk bezeichnet wird. Sie werden, da sie – fortschrittlich!- mit „compressed natural gas“ betrieben werden, hierzulande kurzerhand CNG genannt. Auch hier fahren bis zu vier, manchmal mehr Personen mit; die Gittertüren dienen im Gegensatz zur Grünen Minna übrigens nicht dafür, dass Keiner unerlaubt raus kann, sondern zum Gegenteil…
Und dann gibt es noch handgezogene Karren, reine Lastenfahrräder, gasgetriebene Uralt-Lkws und Busse, altersschwache Londoner Doppeldeckerbusse (ohne Fensterscheiben und auch sonst recht ramponiert, aber unverwüstlich), normale Fahrräder, Motorräder zuhauf, selten Taxis (in denen man sich die Frage nach einem funktionierenden Taxameter schenken kann); fast nur Autos japanischer, koreanischer oder indischer Hersteller meist betagten Alters sind unterwegs. In den schmalen Gassen funktionieren ehemalige Toyota- oder Nissan-Pick-ups, auf die man hinten Bänke und ein Dach montiert hat, als Hilfsbusse: selbst nach bengalischen Standards gelten diese Wracks nicht mehr als neuwertig, aber für ein oder gar zwei Vollumdrehungen des km-Zählers müssen sie wahrscheinlich immer noch herhalten.

Die grüne Minna

In den großen Bussen (und in der Bahn) herrscht eine kleine Art von Apartheid: in diesem strikt muslimischen Land müssen allein reisende Frauen vorne sitzen – wo es bei Auffahrunfällen am gefährlichsten sein soll; Männer haben freie Sitzplatzwahl – ggf. auch auf dem Dache (wie die Schaffner das regeln, bekam ich noch nicht heraus).

In die Slums, in denen wir unsere Sprechstunden abhalten, werden wir immer von bewaffneter Polizei eskortiert. Deren Autos sind aber manchmal nicht weniger altersschwach und kommen Steigungen nur mit viel Mühe hoch; manche schaffen nur 30 bis 40 km/h in der Spitze…Und wenn sie im Stau ihre Sirene für uns anmachen, beeindruckt das auch nur die Wenigsten. Dann muss schon einer der Polizisten abspringen und mit Schlagstock oder Waffe fuchteln, damit uns irgendwo eine Durchfahrtlücke gewährt wird.

Die Slums sind von unterschiedlicher „Qualität“. Niemand von uns würde da wohnen wollen oder sich das nur vorstellen können, aber ganz so heftig wie zB in Nairobi sind die meisten nicht. Oft ist alle 100 m sogar eine Wasserpumpe vorhanden und so was Ähnliches wie ein Gemeinschaftsabort. Über die keramische Ausstattung will ich mich zwar lieber nicht in Details ergehen, aber ich meine schon sagen zu können, dass Durchfallerkrankungen hier seltener sind als eben bspw. in Nairobi.

Der Samstag und der Sonntag sind hier normale Arbeitstage: daran, dass der Freitag hier das Wochenende markiert, ist es ganz seltsam schwer, sich zu gewöhnen!

Wir selbst wohnen nicht in einem Slum, aber in einer dennoch sehr armen und so verwinkelten Gegend, in deren Gassen das Leben so sehr wimmelt und brodelt, dass auch ein alter Pfadfinder wie ich, der sich sonst auf sein Orientierungsvermögen mächtig was einbildet, hier ohne Hilfe sich völlig verirren würde. Taxis weigern sich, in diese Gegend zu fahren, man wäre auf die Rikscha oder das CNG und, wenn man kein Bangla spricht, auf Gebärdensprache angewiesen oder auf die Hilfe zufälliger, irgendwelcher englischer Brocken befähigter Passanten: Diese sind allerdings meist sehr freundlich – als Weißer ist man hierzulande noch ein echtes Unikum und sich schnell der allgemeinen Aufmerksamkeit sicher.

Nun habt Ihr diese ersten Bangladesh-Nachrichten hoffentlich aufmerksam gelesen; Fortsetzung folgt, wie Ihr das gewöhnt seid, demnächst,

Euer R.

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Dr. Wolfgang Neumann-Redlin 12.11.2016

Lieber Herr Gehre, wie immer vielen Dank für ihren Bericht. Ich bewundere Sie für Ihre ständige Einsatzbereitschaft und beneide Sie auch etwas darum. Gerade will ich ins Vinzenz- Krankenhaus, um meinen Freund Karsten Praeger zu besuchen. Dort sieht es anders aus, als Sie es z.Zt. bei Ihnen vorfinden. Ganz herzliche Grüße ,. bleiben Sie gesund, Ihr W.Neumann-Redlinl.