Dr. med. Rolf-Ferdinand Gehre aus Hannover berichtet von einem Tag im Nairobi-Slum-Health-Project von „Ärzte für die Dritte Welt.“
Der Weg durch Dreck und Exkremente runter in den Slum von Mathare ist heute um Rutschgefahr: es hat schon ein paar Tage nicht mehr geregnet.
Als erstes an diesem Morgen wird uns Bornface in den Notfallraum getragen – er ist wirklich übel zugerichtet: 2 Stunden vorher ist er von acht vermutlich unter Drogeneinfluss stehenden Räubern mit einem Buschmesser und einer Rasierklinge angegriffen worden. Die zwei oder drei Euro Geld, die er zu geben hatte, konnten sie nicht davon abhalten, ihm eine zwei Handflächen große Deskalpierungsverletzung des Hinterkopf sowie mehrere Stich- und Schnittwunden an Hals , Brustkorb und Bauch zuzufügen und seinen linken Daumen fast ganz abzutrennen.
Die Helfer, die ihn fanden, mussten bis zu unserer Öffnungszeiten warten: in den Slum fährt hier kein Krankenwagen und der Transport wäre eh ich nicht bezahlbar gewesen.
Hier in Baraka Health Center, betrieben von Ärzte für die Dritte Welt, sind wir bekanntermaßen die einzigen Europäer weit und breit im zweitgrößten Slum der Stadt und daher dürfen wir uns dort tagsüber ungefährdet frei bewegen.
Aber nachts ist der Slum aus Gefahrengründen nicht betretbar – eigentlich geht das aber auch für die Bewohner selbst: laut Hörensagen gibt es fast keinen, der dort nicht schon mal Überfallopfer gewesen ist.
Noch während Bornfaces Versorgung kommt Helen, 25 Jahre alt, Mutter von schon drei Kindern, wegen Kopfschmerzen, Erbrechen, Austrocknung: die akuten Beschwerden sind schnell zu lindern, aber das disseminierte Kaposisarkom des linken Beines verrät schon den später bestätigten Verdacht einer HIV Erkrankung.
An dieser Diagnose ist nicht nur bemerkenswert, wie häufig sie ist, sondern auch, wie beherrscht die Patienten hier diese Nachricht entgegennehmen – anscheinend rechnet in dieser Umgebung sowieso niemand wirklich damit mal gesund alt zu werden.
Ich behandele auch noch Joseph und George: dem einen hat man die Zehen des linken Fußes fast abgeschnitten, um in zur Herausgabe von Geld zu „überreden“ bei dem anderen haben die zum selben Zweck ausgeübte Steinschläge auf den Kopf zu einer Osteomyelitis der OS temporale geführt – und den hiesigen Bedingungen so gut wie unheilbar. Was tun, wenn diese Abszess nach innen durchbricht?
Heute ist Freitag und der letzte Tag meines diesmaligen Einsatzes in Mathare Slum – die Arbeit hat, bei allen Schwierigkeiten angesichts der weitgehend gesetzlosen, ruppigen Lebensbedingungen dort, auch enorme Freude gemacht und ich freue mich bereits jetzt auf meinen nächsten Einsatz dort.
Einige Tage zuvor jedoch, bei der Hausbesuchstour, sah ich ein Elternpaar, noch keine 30 Jahre alt und beide schwer an HIV und Tuberkulose erkrankt. Der elfjährige Sohn kocht das Essen, der Neunjährige schleppt seine beiden jüngeren Brüder auf dem Rücken. Die Blechhütte ist nur circa 3 × 3 m groß – aber das absehbar bald weniger Personen sich diesen knappen Raum teilen müssen, ist ja alles andere als ein Trost …
Als vorletzter Patient heute wird ein zehnjähriger Junge gebracht, der an eine ungesicherte Stromleitung gefasst hat: wir versuchen lange aber erfolglos, ihn zu reanimieren, das Kind hat offensichtlich am Unfallort schon massiv aspiriert.
Beim niedergeschlagenen nach Hause gehen fällt mir noch ein wer heute nicht gekommen ist: bei den Mädels, zum Beispiel hatten wir Post partum den schockierend niedrigen Hämoglobin Wert von 2,3 festgestellt: Ohne eine Einwilligung ihres Ehemanns, sagte sie aber, dürfe sie nicht ins Krankenhaus und die 2,10 € Krankenhaus-Aufnahmegebühr würde er wohl nicht zahlen wollen. Wir versprachen finanzielle Hilfe und beschworen sie, am nächsten Tag mit ihrem Mann wiederzukommen – aber der Gatte hatte wohl nicht auf die Dienste seiner Ehefrau verzichten wollen oder den Zahlungsversprechen nicht getraut.
Tags darauf kostet ein Kaffee in der Abflughalle des Flughafens Nairobi 2,90 €.
(Artikel aus dem Niedersächsischen Ärzteblatt November 2011)