Bangladesh, 8. Dezember 2016

Advent, Advent – kein Lichtlein brennt

Liebe Alle,

inzwischen zieht auch hier in Bangladesh der Winter ein – jedenfalls das, was hier Winter genannt wird. Das heißt nicht, dass ich schon Schnee schippen musste, aber frühmorgens kann es schon mal um die 20, ein Mal sogar 18° „kalt“ sein. Die Geräuschkulisse hier besteht – unangenehmerweise schon morgens um 5 Uhr – aus dem ersten Gebetsaufruf des Muezzins (plus den expektorierend wirkenden Begleitgeräuschen seiner museumsreifen Lautsprecheranlage) statt aus Jingle Bells oder Vom Himmel hoch da komm ich her.

Adventsdeko, Weihnachtsmärkte und Tannenbaumverkäufer haben wir ja auch gar nicht erwartet, Schokolade würde eh schmelzen und ist aus Figurgründen sowieso verboten. Den Speiseplan bewältigen wir problemlos auch ohne Gans, Spekulatius und Marzipankugeln (wobei ich über Letztere mit mir handeln ließe…), sondern kommen mit der stark reislastigen und weitgehend vegetarischen Kost hier gut zurecht.

An den freien Tagen haben wir inzwischen auch ein wenig vom Landesinneren sehen können: fast überall pfannkuchenplatt, sehr grün, viel Wasser, extrem fruchtbar. (Quizfrage zwischendurch: welches Land hat mehr Einwohner: das riesige Russland oder das kleine Bangladesh? (Na, wenn ich schon sooo frage …) Eine Flussfahrt den Brahmaputra runter, Landvillen aus der Moghul- bzw Maharaja-Zeit im Norden, Teeplantagen, eine Begegnung mit Arbeitselefanten waren sehr willkommene Abwechslungen zum inzwischen zwar gewöhnten, aber immer noch grauen, staubigen, übervollen Stadtmoloch Dhaka. Über den Verkehr dort könnte ich noch ewig weiter palavern und Euch zig Bilder von skurrilen oder scheinbar soeben erst dem Automuseum oder dem Schrottplatz entsprungenen Fahrzeugen schicken. Aber das würde hier den Rahmen ja sprengen und außerdem hattet Ihr davon schon eine Kostprobe.

Dr. Rolf Gehre, Einsatz Bangladesh

Lieber und anlassbezogener und wie versprochen berichte und illustriere ich etwas zur Arbeit:
die Herausforderung liegt hier weniger im medizinischen Bereich als mehr in klimatischen, in kulturellen und in einsatzortbezogenen Faktoren. So arbeiten wir hier teilweise nur 3 m von vorbeidonnernden Zügen entfernt in Wellblechhütten, die zu Mittag Temperaturen erreichen, die wahrlich nicht mehr der deutschen Arbeitsstättenverordnung entsprechen. Der bei Regenausfall überall schwebende Staub, die Smogwetterlagen, der Rauch aus den offenen, in den Hütten brennenden Feuerstellen tragen bei uns zu Husten und bei den dort Wohnenden zu einer sehr hohen Prävalenz an Asthma, COPD und anderen Atemwegserkrankungen bei. Krätze, Allergien, Hautpilze, bakterielle Hautentzündungen sind unser tägliches, reichliches Rätselbrot – besonders da sie keineswegs immer einzeln, sondern öfters in Kombination vorkommen. Hinzu kommen noch der – aus genetischen Gründen auf dem indischen Subkontinent sehr häufige – Diabetes mellitus sowie vielfältige Mangelerscheinungen: besonders an Eisen und Zink und Jod, aber auch B-, D- und A-Vitamine. Dieser Tage habe ich sogar den ersten (wahrscheinlichen) Fall von Skorbut in meinem Leben gesehen (entsteht durch Vitamin-C-Mangel). Nach längerer Zeit ist mir auch mal wieder eine Mikrofiliariose (eine Elefantiasis genannte Extremitätenschwellung durch eine von Mücken übertragene Miniaturwurmerkrankung) untergekommen und eine Haut-Leishmaniose (ein tropisches Hautgeschwür, Karl-May-Lesern als Aleppo-Beule bekannt).

Dr. Rolf Gehre, Einsatz Bangladesh

Abhören, Bauchuntersuchen u.v.m. geht aus kulturellen Gründen und bei völlig fehlender Privatsphäre an unseren Behandlungsorten meist nur durch die Kleidung hindurch. Wie in anderen Ländern auch, haben die Patienten in Bangladesh ebenfalls ihre „Mode-Erkrankungen“ oder für eigentlich andere Dinge stehende Metaphern: „gastric“, „weakness“, „fever at night“, „all body pain“ gehören bspw. dazu, ebenso die Zeitangaben: 5, 10, oder noch mehr Jahre Fieber zu haben oder „weight loss“, gehört hier zu den ungerührt vorgetragenen Schilderungen. Apropos Schilderung: auch wenn ich inzwischen einige Symptome usw. selbst auf Bangla abfragen kann, spricht von der sowieso zu 40% noch analphabetischen Bevölkerung maximal 1% Englisch, obwohl das hier offiziell die zweite Amtssprache ist.

Die Folgen von Betelnuss-GenussEin erschreckend häufig auftauchendes Bild sind die vom Betelnuss-Kauen zerstörten Zähne und Zungen. Aber die Stimulation und die hungervertreibende Wirkung durch den kleinen Rausch lassen es das wohl vielen Leuten für wert erscheinen. Bild zum Vergrößern anklicken. Warnung an Nicht-Mediziner: Der Anblick ist gewöhnungsbedürftig!
(Auch unser Busfahrer bei der Fahrt in den Norden Bangladeshs schob sich vorm Losfahren erst mal´n ordentlichen Priem in die Backentasche. Selbst Polizisten frönen diesem Brauch). Malaria gibt es hier nur saisonal in der Regenzeit – derzeit also nicht und das erleichtert sehr vieles. Tuberkulose ist weniger oft als erwartet, HIV ganz wesentlich seltener als es in Afrika ist und in Indien sein soll; auch echte Unterernährung ist seltener, als ich erwartete: so wie zur vergleichsweise geringen Durchfallhäufigkeit trägt auch dazu wohl, neben der zwar nur rudimentären aber immerhin in Ansätzen vorhandene Kanalisation, die bessere Trinkwasserversorgung als in manch andern Ländern bei. Hier ist das halb amphibische Land Bangladesh dann mal im Vorteil.

Dr. Rolf Gehre, Einsatz Bangladesh

Kurz vor Weihnachten werde ich dann auch wieder in Deutschland sein, um fleißig mein Quantum an Keksen und Schokokringeln nachzuholen; bis dahin wünsche ich Euch noch eine beschauliche und schöne Adventszeit!

Euer R.

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Biskupek, Wolfgang 11.12.2016

Lieber Herr Dr. Gehre,
wir lesen Ihre Berichte und sind sehr erschüttert! Wie gut geht es uns doch in Europa!!!!!
Heute aber Ihnen und Ihrer Familie frohe Weihnachten daheim & für 2017 alles Gute; vor allem Gesundheit.
Mit besten Grüßen,
Ihre W.& R. Biskupek

Carsten 22.01.2017

Hallo Herr Dr. Gehre,
Schöne Seite ,gute Berichte und vor Allen eine sinnvolle Tätigkeit.
Wenn man damit manche von den heutigen KÄND -Einsätzen vergleicht und das Erstaunen der Patienten wenn sie “ lange“ warten müssen anhören muß ….

Weiterhin viel Erfüllung bei Ihrer Berufung und Gesundheit !